Desares Verzweiflung

Einst lebten Feranian und Desare. Sie liebten einander sehr. So sehr, dass es ihren Freunden und der Familie war, als würde das Licht ihrer Liebe um sie herum strahlen und sie auf jedem Schritt ihres Lebens begleiten und auch für sie strahlen. Doch Feranian war Seemann und eines Tages kehrte sein Schiff nicht zurück. Denn die See ist grausam und kennt nicht gut und böse und nimmt in ihrer Gier zu sich, wen sie zu finden vermag, wenn es ihr nach dem Blut der Lebenden giert.

Erst hoffte Desare, aber nach 50 Jahren des Hoffens, verzweifelte sie. Denn jetzt war klar, ihr Geliebter musste tot sein. Aber sie hatte nie Abschied nehmen können und das Leben ohne ihn wurde für sie grau und lichtlos. Selbst der Himmel und das Meer wurden grau.

So wanderte sie am Strand entlang. Jeden Tag. Ohne Ziel und ohne Grund, außer ihrer Trauer mit ihren Tränen den tiefen Biss zu nehmen. Da saß sie eines Tages im Grase und blickte wie so oft über das Meer. Unverwandt und ungebeten erschien eine Frau und legte den Arm um sie. Weder Elb, noch Zwerg war sie und auch keine der stolzen Frauen des Volkes der Aijnan aus dem Clan der wilden Vogelreiter. Schön war sie. Wunderschön. Voller Trauer, aber auch voller Freude. Und etwas war um sie, was niemand in Worte zu fassen vermag. So fragte die Frau, warum Desare weine und sie erzählte es ihr. Da riss die Frau einen Grashalm und gab ihn Desare in die Hände. "Wie dieser Halm ist das Leben eines jeden auf dieser Welt. Doch wenn er gerissen wird, dann ist sein Leben wichtig gewesen. Und jeder, der um ihn wuchs, wird ihn vermissen. Doch einst werden sie sich wieder sehen."
Desare sah zu der Frau und weinte mehr. "Aber jung bin ich und konnte meinem Geliebten nicht auf Wiedersehen sagen."
Die Frau deutete auf den Halm. "Dann sage es ihm, denn dieser Halm, der jetzt stirbt, wird die Botschaft mitnehmen in das Land, das kommen wird, wenn wir hier von dannen gehen."
Und Desare sprach zu dem Halm, und sie sprach von dem Leid und ihrer Liebe und wie sehr sie doch Feranian vermisse. Doch siehe. Da wurde der Halm zu goldenem und grünem Licht und flog wie eine Wolke zum Ozean hin dort in den Himmel davon. Da wusste Desare, dass Feranian sie gehört hatte und sie lächelte wieder.

Als sie sich umdrehte, war die Frau aber verschwunden. Da weinte Desare wieder. Und obwohl sie nun hatte Abschied nehmen können, wurde das Meer langsam wieder grau und der Himmel wurde wieder grau. Denn zu kurz war die Gnade der fremden Frau um sie gewesen und zu tief war der Verlust und die Leere in Desare und ein kleines Licht vermochte nicht mehr das große Licht des Lebens in Desare zu entflammen.

Desare ging Heim und erzählte von ihrer seltsamen Begegnung. Immer wenn sie davon sprach, wurde ihr Herz leichter. Doch wurde es nur umso schwerer, wenn sie dann allein des Nächtens in ihrer Kammer lag und ohne Hoffnung war, je wieder die Liebe und Wärme ihres Liebsten zu spüren. Denn fort war er. Gegangen in das Land der Toten, zu dem die Lebenden keinen Zutritt haben und die Toten es nicht verlassen können.
Da wurde selbst Desare grau. Ihre Schönheit verblasste. Und dahin welkte sie, wie die Blume in der heißen Sonne.

Und eines Morgens sahen die Fischer Desare, wie sie nur in einem Hemd angetan in das Meer ging. Immer weiter und Tränen waren in ihren Augen. Die Arme von sich gestreckt, als würde sie um die Umarmung der See bitten. Da spürten die Fischer, sie wolle sich Leid antun. Doch kamen sie zu spät, denn Desare versank in dem Wasser. Aber sie fanden den Leib der Desare nicht. Da senkten die Fischer ihre Köpfe in ihren Booten und beteten zu der Herrin und Schöpferin allen Lebens, denn gewiss hatte sie Desare zu sich genommen und sie in ihren Gärten wieder mit Feranian vereint, den sie über alles liebte, so dass es nicht mehr auf der Welt für sie gab.

Am Abend, als die Sonne im Meer versank, ward der Horizont goldengrün und sie wussten, zwei Liebende hatten sich wieder gefunden, in dem Land, das erst dereinst zu uns kommt, wenn wir von dannen gehen. Und es heißt, dass immer, wenn am Abend die Sonne in einem grüngoldenen Licht versinkt, eine Seele das Leid der Welt nicht mehr ertragen konnte und den Weg zu dem suchte, den er oder sie liebte und die Welt der Lebenden nur noch Schatten war und sie ihrer überdrüssig geworden waren.

(Eine Geschichte der Elben Thrumumbahrs, wie sie Somiad von Prinzessin Malië im Jahr 3 ndW in der Halle der Göttin erzählt wurde. Es war eine der ersten Geschichten, die Somiad in seine Sammlung von Geschichten über die Göttin und den Glauben aufnahm. Sie ist insofern von größerer Bedeutung, dass ihr wahrer Kern nicht nur bruchstückhaft ist. Denn zum einen leben selbst heute noch Zeitzeugen bei den Elben in ihrem Altersgrau, die sowohl Feranian und Desare kannten, wie es auch bezeugt ist, dass es dieses seltsame Phänomen des grüngoldenen Himmels, das einem Wetterleuchten bei Sonnenuntergang gleicht erst seit 6.500 Jahren gibt. Zumindest wurde es in den Jahren vorher von den Elben nie beobachtet.)