Die Seyi'tra

„Höre mir zu, Wanderer! Wieder einmal bist Du hergekommen und möchtest Geschichten hören, Dinge erfahren, die nur wenige Sterbliche wissen. Willst Wissen, was es mit Balapur und seinen Völkern auf sich hat. Nun denn, nimm Deinen Wein, nimm Deine Pfeife und höre meine Worte!“

Die Seyi’tra sind eines der eingeborenen Völker Balapurs. Auf den ersten Blick wirken sie humanoid, was auch durchaus richtig ist. Die Unterschiede aber sind zum einen die gewundenen Hörner, die bei den Seyi’tra an beiden Seiten des Schädels auf Höhe der Schläfen hervor wachsen. Sie gelten als das größte Schönheitsideal dieses Volkes, und sollten möglichst in sich gewunden und aufgerollt wirken. Dann gibt es natürlich ihre Beine, die eher an die eines Huftieres erinnern. Hinzu kommt noch ein Schwanz, der ihnen in ihrer Lebenssituation hilfreich zur Seite steht.

Das Volk der Seyi’tra hat niemals eine hoch stehende Kultur entwickelt, ihre Schrift ist nie über die von Höhlenmalerei hinaus gekommen, Kleidung, Waffen, Architektur, Urbanisierung von Land – all das ist ihnen fremd. Sie leben noch immer so, wie seit zig Tausend Jahren: In vollkommener Abhängigkeit von ihrem Lebensraum, aber auch in perfekter Symbiose mit diesem.

Deswegen ist es wichtig, nun auf den Lebensraum der Seyi’tra zu sprechen zu kommen. Sie leben in den Gebirgen Korrgaths. Genauer bei den Vulkanen Korrgaths, denn diese sind es, die ihnen das Überleben erst ermöglichen. Sie lieben die steilen, schroffen Hänge, über die sie in reiner Lebenslust hinweg rennen und ihr Leben genießen, als seien sie Gämsen. Ihre Schwänze helfen ihnen dabei, das Gleichgewicht zu halten, denn sie laufen auch dort nur auf zwei Beinen und können somit nicht den Halt eines Vierbeiners erreichen.
Doch es ist nicht ihr eigentlicher Lebensraum. Da sie keine Kleidung haben, ihr Fell aber auch eher dünn ist, sind sie gezwungen, den Hauptteil ihres Lebens in den Vulkangebirgen zu verbringen. Dort wohnen sie in natürlichen Höhlen, immer in der Nähe von Lavaströmen. Die Hitze der Ströme ist auch die Quelle ihres Daseins. Denn zwar essen und trinken die Seyi’tra durchaus, können aber auch wochenlang ohne auskommen, aber nur zwei, drei Tage ohne die Hitze der Lava. Sie ist die Energiequelle ihrer Existenz, der Lebensodem der Seyi’tra. Dabei kommt den Hörnern der Seyi’tra eine große Rolle zu. Denn wie bei Fledermäusen können diese eine Art Ultraschall ausstrahlen, der den Seyi’tra die Orientierung im Berg ermöglicht. Die Augen sind auf Licht angewiesen und in den dunklen Kavernen der Lavaströme bis zur Oberfläche vollkommen nutzlos.

Ihre Kultur – so man davon sprechen kann – basiert auf Sippschaften. Die Sippen sind in der Regel 20 bis 30 Einzelglieder groß. Geführt wird die Sippe vom besten Stromfinder. Was nicht weiter verwundert, denn die existentielle Notwendigkeit der Lavaströme ist beschrieben worden. Die Sippe besteht dabei zu einem Drittel aus Männern, einem Drittel aus Frauen und einem Drittel Kinder, die in der Gemeinschaft aufgezogen werden. Kinder gelten nach der Geburt sofort als volles Mitglied der Gemeinschaft und werden auch von dieser groß gezogen und geschützt und nicht nur von dem Elternpaar. Feste Beziehungen sind bei den Seyi’tra die große Ausnahme. Lust und Liebe ist somit ebenfalls Teil der Gemeinschaft.
Sollte es zu Konflikten innerhalb der Gemeinschaft kommen oder ein Mann die Führerschaft beanspruchen, so wird dies im Zweikampf entschieden. Dabei wird eine regelrechte Arena aufgebaut. Die beiden Kontrahenten werden in ein Feld gestellt und sie versuchen dann den Gegner mit den Hörnern aus dem Bereich zu schieben. Wer aus dem Feld geschoben wird, hat entsprechend verloren. Ein Sieg wird umgehend anerkannt und die Streitigkeit ist beigelegt. Diese Kämpfe werden von allen durchgeführt. Das bedeutet Mann gegen Mann, Frau gegen Frau, Kind gegen Kind und auch tatsächlich Frau gegen Mann und es ist beileibe nicht sicher, dass der Mann dabei als Sieger aus dem Kampf hervorgeht.
Untereinander halten die Seyi’tra Kontakt. Es kommt oft vor, dass sich die Sippen zufällig oder auch absichtlich treffen. Dann werden Neuigkeiten ausgetauscht, aber auch Seyi’tra selbst. Es kommt selten vor, dass ein Seyi’tra sein Leben lang in ein und der Selben Sippe bleibt. Das dies der Durchmischung des Blutes zum Vorteil gereicht liegt auf der Hand. Außerdem sind sie eher gesellige Lebewesen und genießen das große Beisammen sein. Konflikte zwischen Sippen kommen nur vor, wenn zwei gleichzeitig einen neuen Lavastrom entdecken, den beide Sippen zum Wohnraum nehmen wollen und der nicht groß genug für zwei Sippen ist. In dem Fall aber wird auch hier der oben beschriebene Weg begangen, um eine Lösung herbei zu führen.

Ob die Seyi’tra glauben, willst du wissen. Nun, das ist nicht so leicht zu beantworten. Sie glauben an die ewige Hitze, die Quelle ihres Lebens. Somit ist es eher ein Naturgeistglaube und kein üblicher monotheistischer oder pluralistischer Glaube. Priester gibt es nicht, nicht einmal Schamanen. Selbst der Kräutermann oder die Kräuterfrau sind lediglich für die Heilung zuständig, nicht jedoch für das spirituelle Wohl. Von einer echten Gottheit kann nicht berichtet werden.
Andererseits ist auch nicht viel über dieses Volk bekannt und wer weiß schon, was wirklich unter den Feuerbergen geschieht?

Von einer Merkwürdigkeit will ich dir noch berichten: ihre Gesänge.
Ja, Gesänge. Dabei handelt es sich eher um das melodiöse hervorstoßen gutturaler Laute, denn um das in gezielte Töne gefasste Wort. Trotzdem aber ist es Musik, denn sie bauen Instrumente – Instrumente aus Stein, die wie das Pfeifen des Windes im Gebirge klingen, sobald hinein geblasen wird. Dabei sind die Instrumente mit das Einzige, was dieses Volk mit den eigenen Händen herstellen.

Fast das Einzige, ja, zwei weitere Dinge sind noch zu benennen, die sie mit ihrer Hände Arbeit erzeugen.

Zum einen stellen die Sippen ausgehöhlte Steinsäulen an den Rändern ihrer Sippenreviere auf. Diese dienen nicht nur als eine Art Grenzstein, sondern ganz profan der Luftzirkulation. Denn frische Luft zum atmen brauchen die Seyi’tra und die Gase, die ein Lavastrom zuweilen ausstößt, sind auch für sie Gift und können zum Ableben eines Wesens führen. Ich habe sogar gehört, dass es schon zu Unglücksfällen kam, wo eine ganze Sippe so auf einmal verstarb und ausgelöscht wurde.
Die Seyi’tra aber sagen: „Das Ewige Feuer gibt und es nimmt. Wer sind wir dann darüber zu klagen?“
Entsprechend werden Tote auch immer in der Lavaglut versenkt und dem Feuer übergeben.

Als Drittes nun, will ich von ihren Malereien berichten. Mit ihren Fingern kratzen sie Bilder in die Höhlenwände. Kratzen? Habe ich kratzen gesagt? Nein, es sind Gravuren, könnte man schon sagen und das nur mit der Kraft und dem Geschick ihrer Hände und keinem anderen Werkzeug. Diese Bilder sind so real, so plastisch, dass ein Betrachter durchaus in ihnen zu versinken vermag.
Dabei stellen sie das alltägliche Leben der Seyi’tra dar und ihren Weg durch die Feuerberge. So gesehen, haben sie also eine Geschichtsschreibung, denn die Wesen sind in der Lage diese Bilder zu lesen, wie ein Buch. Dadurch wissen sie, was selbst vor Jahrhunderten Geschah. Kaum ein anderes Volk ist sich seiner Vergangenheit so sehr bewusst wie die Seyi’tra, lebt mit und in ihr, aber lernt auch aus ihr für die Zukunft.

Abschließend bleibt nur noch zu sagen, dass die Seyi’tra keinerlei Kontakt zu anderen Völkern Balapurs hegen und pflegen. Somit gibt es keine Freundschaften, aber auch keine Konflikte mit diesen oder gar Feindschaften. Sie leben glücklich und zufrieden mit sich selbst und nach all dem wenigen, was man über sie hört, wollen sie es auch gar nicht anders haben.

„So mein Freund, Dein Wein ist leer, Deine Pfeife kalt und doch glänzen Deine Augen und Deine Finger zucken. Ich werde Dich nicht aufhalten, eile zu Deiner Feder und schreibe nieder, was ich Dir berichtet habe!“